Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?

Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?

Organisatoren
Schleiermacherforschungsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.05.2009 -
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Von
Simon Gerber, Schleiermacherforschungsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Welche Relevanz hat Friedrich Schleiermacher (1768–1834) noch für die Theologie und Philosophie des 21. Jahrhunderts? Taugt er als Wegweiser für die Zukunft des Christentums?

Die Berliner Schleiermacherforschungsstelle bearbeitet seit 1979 die Edition der Briefe Schleiermachers; seit 1994 gehört die Forschungsstelle zur Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bis 2008 hat Kurt-Victor Selge diese Arbeit geleitet. Ihm zu Ehren anlässlich seines Abschiedes hat die Berliner Schleiermacherforschungsstelle ein Symposion veranstaltet.

WILHELM VOSSKAMP, der die Gesprächsleitung innehatte, wies in seiner Begrüßung auf das seit den 1950er-Jahren in vielen Disziplinen gestiegene Interesse an Schleiermacher hin, so in der Hermeneutik und der Pädagogik; auch die Berliner Humboldt-Universität habe Schleiermacher anlässlich ihres bevorstehenden 200jährigen Jubiläums als den wichtigsten Vater ihres Konzeptes und Bildungsideals wiederentdeckt. Am meisten aber werde Schleiermacher in der Theologie und Religionsphilosophie rezipiert.

ULRICH BARTH nannte drei bedeutende Errungenschaften des Schleiermacherschen Religionsverständnisses: 1) Schleiermacher habe alles Religiöse auf die menschliche Subjektivität bezogen und aus dieser heraus erklärt; die Glaubenslehre beschreibe nach Schleiermacher also die Inhalte der menschlichen Frömmigkeit. 2) Schleiermacher verorte seine Religionstheorie in einer allgemeinen Kulturtheorie; in dieser gehörten Religion und Kunst zusammen als Äußerung des Gefühls, der Individualität und Subjektivität. 3) Die Kirche als Gemeinschaft der Religion sei dann die dem religiösen Bewusstsein zuzuordnende Kommunikationsgemeinschaft; es sei eben das Wesen jedweden religiösen Gefühls, nicht bei sich zu bleiben, sondern eine Gemeinschaft zu bilden und sich mitzuteilen.

Diesen drei theoretischen Hauptleistungen von Schleiermachers Religionstheorie stellte Barth nun drei kritische Anfragen zur Seite: 1) Das (religiöse) Gefühl als Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit sei nicht so unmittelbar im Erleben gegeben, wie Schleiermacher meine, sondern enthalte immer auch schon Reflexion und Deutung des Erlebten, und insofern sei die Religion nicht nur eine Erlebnis-, sondern auch immer eine Deutungskultur. 2) Wenn in Schleiermachers Kulturtheorie Religion und Kunst als Symbolisieren (Erkennen und Bezeichnen) unter dem Vorwalten der Individualität gefasst werde, so sei sein Symbolbegriff zu einfach. Nach Kant und Hegel sei ein Symbol ein sinnlicher, endlicher Ausdruck für etwas Unsinnliches und Unendliches, eigentlich nicht Darstellbares. Der Symbolbegriff der modernen Metapherntheorie sei ihnen und nicht Schleiermacher gefolgt. 3) Die Einleitungsparagraphen in Schleiermachers Glaubenslehre hätten keine Lehre von der Heiligen Schrift, sondern bestimmten das Wesen des Christentums zunächst ganz unabhängig von ihr. Das Phänomen einer heiligen Schrift lasse sich aber nicht so an den Rand schieben. Eine Schriftreligion wie das Christentum habe darin ihr Leben, dass man sich an den vorgegebenen Symbolbeständen abarbeite; die Schrift präge und bestimme die Erfahrung immer schon.

ANDREAS ARNDT ging es um das Bild, das Schleiermacher von der Zukunft entwarf. Tatsächlich spiele die Zukunft in Schleiermachers Philosophie eine große Rolle; und während bei Kant die Vorstellungen von der Zukunft ein bloß heuristisches Prinzip seien, um in der Welt die Zwecke des sittlichen Handelns zu erkennen, halte Schleiermacher das von ihm entworfene Zukunftsszenario für wirklich erreichbar. Schon in den romantischen Frühwerken stelle Schleiermacher ein goldenes Zukunftsbild vor Augen: die Befreiung des Menschen von aller stumpfsinnigen, bloß mechanischen Arbeit durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, das allgemeine Priestertum der Gläubigen in der religiösen Unmittelbarkeit und in summa die Humanisierung der Welt, die Verwirklichung des Menschseins in einer Gemeinschaft freier, einander anerkennender Individuen; nicht zuletzt Kunst und Religion sollten dazu beitragen.

Schleiermachers philosophische Ethik zeige die Zukunft als das höchste Gut und letzte Ziel alles menschlichen Handelns, die organisierende und erkennende Durchdringung der Natur durch die menschliche Vernunft. In den Vorlesungen über die Dialektik (die Meta-Wissenschaft vom Wissen) sei die Zukunft das Ende und Ziel des Wissensprozesses in der Welt- und Gottesidee. Da beide Wissenschaften nach Schleiermachers Verständnis eher deskriptiv als normativ seien, müsste das Fortschreiten hin zum Zukunftsideal in der Welt- und Wissensentwicklung wirklich aufweisbar sein. Tatsächlich beruhe Schleiermachers Zukunftsbild aber nicht auf empirischen Beobachtungen, sondern auf spekulativen Prämissen, nämlich 1) darauf, einen identischen Grund jenseits aller Entzweiung zwischen Natur und Geist, Induktion und Deduktion zu postulieren, und 2) darauf, diesen Grund als erreichbares Ziel des Handelns und Erkennens in die Zukunft zu projizieren. Einstweilen und bis zum Ziel des Welt- und Wissensprozesses seien nach Schleiermacher die Idee Gottes und ihr Korrelat, die Idee der Welt als der Totalität des Bedingten, zwar noch nicht im Wissen, aber im unmittelbaren Gefühl präsent. Dieses unmittelbare Gefühl entspreche letztlich dem christlich-religiösen Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, und insofern stünden für Schleiermacher Wissenschaft und Religion, Philosophie und Theologie friedlich und widerspruchsfrei nebeneinander. Während für Schleiermacher idealer Gehalt und Ziel der Geschichte selbst außerhalb der Geschichte stünden, sei es die Leistung der Hegelschen Philosophie gewesen, nicht die Historie zu idealisieren, sondern umgekehrt die Idee zu historisieren.

ARNULF VON SCHELIHA wies darauf hin, dass Schleiermacher selbst – darin auch nach eigener Einschätzung ein Ausnahmefall – auf allen Feldern tätig gewesen sei, in die sich für ihn die Gesellschaft ausdifferenziere: in Wissenschaft und Kirche, in der freien Geselligkeit und eben auch in der Politik. Dies Letzte habe er in seinen Vorlesungen und Akademievorträgen über die Politik reflektiert. Die Politik oder Staatslehre als Wissenschaft leite sich für Schleiermacher als kritische Disziplin aus der philosophisch-ethischen Kulturtheorie ab und gewinne von ihr her ihre Prinzipien und Normen. Dabei seien alle drei Teile der Ethik, die Güterlehre, die Tugendlehre und die Pflichtenlehre, für das politische Handeln relevant. Die Güterlehre bestimme das Politische als eine der Grundformen der menschlichen Vernunfttätigkeit. Schleiermachers Pflichtenformel, wonach der Einzelne das möglichst Größte zur Wahrnehmung der gemeinsamen sittlichen Aufgabe beitragen möge, andererseits aber stets gemäß seiner Eigentümlichkeit handeln solle, mache die Balance zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zur allgemeinen sittlichen Norm, auch für die Politik. Die Tugendlehre schließlich beschreibe die sittliche Vernunft und Kraft der Einzelnen als Voraussetzung der Pflichterfüllung. Die Vaterlandsliebe sei die gemeinsame Tugend der Regenten ebenso wie der Bürger und damit die höchste politische Tugend. Dabei gewähre gerade die christliche Religion der guten Gesinnung eine gewisse Stabilität, wohingegen eine Tugendhaftigkeit ohne religiöses Fundament immer störanfällig bleibe.

Unbeschadet ihrer Zeitgebundenheit, resümierte Scheliha, bleibe Schleiermachers politische Ethik auch für die Gegenwart relevant: Sie beschreibe, wie Menschen am öffentlichen Leben teilhätten, sie bleibe streng sachorientiert und biete eine brauchbare, realistische Orientierung ohne sittliche Überforderung oder Übermoralisierung.

Die Leitfrage von HANS-PETER GROSSHANS war, ob Schleiermachers Verständnis Gottes als des Woher des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls dem Freiheitsgefühl der Moderne genug Raum gebe, oder ob sein allesbedingender Gott letztlich freiheitsfeindlich sei. Schleiermacher stehe zwischen Neuzeit und Moderne: Die Neuzeit habe noch den Einheitspunkt der vielförmigen Welt gesucht, während die Moderne auch die Vernunft historisiert habe und somit die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt ohne übergeordnete Einheit als autonom und gleichberechtigt nebeneinander habe stehen lassen. In Schleiermachers Denken stifte einerseits die Gottesidee die transzendente Einheit der Welt; andererseits aber habe er auch die Pluralität und Positivität des geschichtlich Gewordenen anerkannt und ernstgenommen. Die Einheit zwinge Schleiermacher der Welt nicht von außen auf, sondern finde sie in der menschlichen Subjektivität, im unmittelbaren Selbstbewusstsein. In ihm und durch es sei die göttliche Allursächlichkeit gegeben und in allen Tätigkeiten des menschlichen Geistes immer schon mitgesetzt; freilich sei Gott als implizite Voraussetzung alles Denken selbst kein Gegenstand der Erkenntnis.

Großhans’ kritische Anfrage an Schleiermacher ging dahin, ob Schleiermacher, indem er Gott als Allesverursacher aufgefasst habe, nicht in die Falle der Postmoderne getappt sei, nämlich mangels anerkannter Maßstäbe und Kriterien bloß alles regressiv so hinzunehmen, wie es gegeben sei. Hätte Schleiermacher sich unter den Wegen des Pseudo-Dionysius Areopagita, zu Aussagen über Gott zu kommen, weniger auf die via causalitatis als auf die via negationis verlegt, dann wäre er – als Negation der menschlichen Abhängigkeit – auf eine All-Freiheit als wichtigstes Gottesprädikat gekommen und auf ein Reich der Freiheit als darin mitgesetzte eschatologische Hoffnung.

MARTIN OHST fragte, was Leute von unbestrittenem kirchengeschichtlichem Rang wie Augustin oder Luther etwa von dem mit seinen kirchlichen Oberen chronisch malkontenten katholischen deutschen Kirchenvolk der Gegenwart unterscheide, von dem nie bedeutende Veränderungen ausgingen, und er kam zur Antwort: Personen und auch Bewegungen von kirchengeschichtlichem Rang seien nicht bloß Kritiker gewesen, die sich bei aller Unzufriedenheit doch nur das Bestehende in etwas verbesserter Gestalt gewünscht hätten; vielmehr hätten sie epochemachende neue Konzepte gehabt für das, was das Christentum sei, und hätten diese Konzepte dann auch konstruktiv und praktisch zur Geltung gebracht. Typisch für Individuen von epochalem Rang sei es schließlich, dass sie in ihrer Person Divergenzen und Widersprüche zusammengehalten hätten, die ihre Nachwelt so nicht mehr habe in Übereinstimmung bringen können; und so bestehe die Nachwirkung eines Augustin oder Luther nicht unwesentlich in Kontroversen über ihre Deutung.

Nun unterscheide sich Schleiermacher von den bisher Genannten dadurch, dass er ein kleineres Wirkungsfeld gehabt habe – vor allem das gebildete protestantische Deutschland. Das gehöre aber generell zu den Gegebenheiten des nachreformatorischen Christentums: Die christliche Welt differenziere sich in viele sprachlich, kulturell und sozial unterschiedliche Milieus aus; dafür gebe es aber insgesamt mehr Beteiligte an den Diskursen als nur die eben doch kleine, wenn auch internationale, lateinisch sprechende gelehrte Welt des Mittelalters, und so gingen die Impulse in der Neuzeit auf ihrem kleinen Feld mehr in die Breite und die Tiefe. Schleiermachers großes Thema sei die Gestaltung des protestantisch-christlichen Lebens in der nachkonfessionellen Bürgerwelt gewesen. Christ, Kulturmensch und Bürger zu sein falle bei Schleiermacher nicht mehr automatisch zusammen, aber auch nicht völlig auseinander: Einerseits habe Schleiermacher christliche und allgemeine Sittlichkeit nicht mehr einfach miteinander identifiziert, andererseits habe er sich aber auch geweigert, das Christentum als Subkultur und Totalopposition gegen eine vermeintlich gottlose politisch-kulturelle Moderne in Stellung zu bringen. Reflexionsbedarf habe Schleiermacher besonders für die Kirchentheorie gesehen; bei ihr zeichne er das positiv Christliche in die Koordinaten einer geselligen Theorie der Religion überhaupt ein.

Das in spannungsreicher Harmonie sich vollziehende Miteinander von bürgerlicher, wissenschaftlicher und christlicher Existenz sei so für die Späteren nicht mehr möglich gewesen; ähnlich wie bei Augustin strebten die verschiedenen Fäden wieder auseinander, die seine Person zusammengehalten habe. Wer sich aber die Mühe mache, Schleiermachers Fragen und Probleme zu bearbeiten und in seine Schule zu gehen, der staune, wie viel sich bei ihm noch immer lernen lasse.

KURT-VICTOR SELGE trug Anfragen und Reflexionen über Schleiermacher und seine Verehrer vor, erwachsen aus Jahrzehnten der Tätigkeit in der Leitung der Berliner Forschungsstelle und im Herausgeberkreis der Kritischen Gesamtausgabe Schleiermachers. Selge fragte, ob Schleiermacher wirklich der Wegweiser in eine christlich verantwortete Zukunft sei oder gar in ein neues christliches Zeitalter, wozu ihn seit 30 Jahren etliche, sogar Katholiken, machten. Schleiermachers Ethik und Dialektik seien durchaus zukunftsfroh, beschränkten die Eschatologie freilich auf eine humane Immanenz mit einem allgemein verbreiteten Christentum in der versöhnten individuellen Mannigfaltigkeit des religiösen Gefühls. Das 20. Jahrhundert freilich sei weniger zukunftsoptimistisch gewesen. An seinem Beginn habe Johannes Weiß den eschatologisch-apokalyptischen Charakter der Verkündigung Jesu nachgewiesen, und nach mancherlei katastrophalen Erfahrungen sei man eher zur Erwartung eines Endknalls gekommen als einer allgemeinen Humanisierung.

Ob Schleiermacher selbst ein „Kirchenfürst“ gewesen sei, also dem eigenen Ideal einer Verbindung zwischen wissenschaftlich-theologischer und religiös-kirchlicher Geist entsprochen habe? Die Kirche der altpreußischen Union verehre ihn, allerdings sei Schleiermacher nicht ihr eigentlicher Kirchenvater; er sei ein Vordenker der Theologie in der Epoche der großen idealistischen Systeme. Sein frommer Schüler August Neander habe Schleiermacher – zugleich bewundernd und kritisch – den neuen Origenes für die Zeit nach der Aufklärung genannt. Politisch sei der preußische Patriot Schleiermacher im eigenen Vaterland immer missliebiger geworden; er übe einen unguten Einfluss auf die Studenten aus, habe man auf höherer Stelle befunden. Selbst habe Schleiermacher die nicht zuletzt von seinen Reden „Über die Religion“ angeregte Erweckungsbewegung zunehmend kritisch gesehen. Über allen Misshelligkeiten habe der Schriftsteller, akademische Lehrer und Prediger aber nie seine ruhige, überlegene Souveränität verloren, auch nicht seinen Humor und seine Ironie.

Die Beiträge des Symposions sollen in absehbarer Zeit bei de Gruyter in Berlin in einem Band veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Wilhelm Voßkamp (Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität Köln, Projektleiter der Schleiermacher-Briefausgabe): Begrüßung

Ulrich Barth (Institut für Systematische Theologie, Universität Halle): Fragen an Schleiermachers Religionstheorie

Andreas Arndt (Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin, Leiter der Berliner Schleiermacherforschungsstelle): Die Zukunft der Schleiermacherschen Philosophie

Arnulf von Scheliha (Systematische Theologie, Institut für Evangelische Theologie, Universität Osnabrück): Schleiermacher als politischer Denker

Hans-Peter Großhans (Seminar für Systematische Theologie, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Münster): Gottesverhältnis und Freiheitsgefühl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne

Martin Ohst (Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Systematische Theologie, Fach Evangelische Theologie, Universität Wuppertal): Überlegungen zu Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang

Kurt-Victor Selge (Seminar für Kirchengeschichte, Humboldt-Universität Berlin): Vordenker, Väter und Kirchenfürsten, oder: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“


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